Im Dezember 2024 werden es genau 100 Jahre, dass die Siedlung „Auf der Egge“ fertiggestellt und von den ersten Mietern bezogen wurde. Die Geschichte der Siedlung und insbesondere die des Grundstücks beginnt jedoch viel früher und ist untrennbar verbunden mit der Gastwirtschaft an der Gräfin-Imma-Straße 48. Heute ist es „Der Grieche“ in Stiepel, die Historie beginnt aber bereits im Jahr 1836 am ursprünglichen Standort auf der anderen Straßenseite schräg gegenüber, heute die Hausnummer 49. Das genaue Jahr des Grundstückerwerbs und des Hausbaues ist nicht bekannt, aber man kann davon ausgehen, dass ein gewisser Heinrich Schreier vor 1824 mit dem Beruf des Leinenwebers nach Stiepel gekommen ist, denn auf der sogenannten Preußischen Gemeindekarte von 1824 ist das Haus bereits eingezeichnet. Das von ihm erworbene, ursprünglich rund 19.000 m² große Grundstück war Teil des seit der sog. Markenteilung des Jahres 1786 dem evangelischen Pastorat gehörenden Waldstücks, des „Pastoratsbusches“. Auf diesem Grundstück errichtete er zusammen mit seiner Ehefrau Anna Catharina, geborene Wefelscheid, ein Fachwerkhaus. Ab 1836 betrieb er dort eine Schankwirtschaft, die später zunächst sein Sohn Friedrich Wilhelm Schreier (*1841), dann sein Enkel Heinrich Schreier (* 1871) weiterbetrieben.
Der Letztgenannte stellte in der Gründerzeit des Fußballs um die vorletzte Jahrhundertwende auf seinem Grundstück eine Fläche als Sportplatz zur Verfügung. Stiepel hatte mehrere Fußballvereine, aber kein vernünftiges Gelände, diesen Sport auszuüben. Heinrich Schreier stellte genau die Fläche der heutigen Siedlung zur Verfügung. Im Jahr 1913 verkaufte er diese Fläche an die Gemeinde Stiepel. Mit den Erlösen aus diesem Grundstücksverkauf wurde unter Verwendung von Steinen aus dem ebenfalls auf dem Grundstück liegenden Steinbruch im Jahr 1913 schräg gegenüber mit dem Bau der „neuen“ Gastwirtschaft begonnen. Zunächst nannte Heinrich Schreier seine Wirtschaft „Restauration Zum Sportplatz“, für die Stiepeler war es aber schlicht „Haus Schreier“.
Zunächst noch ein anderer Aspekt Stiepeler Geschichte: Bereits während des 1. Weltkriegs, aber auch und gerade in den Jahren danach kam es in sämtlichen Städten und Gemeinden des Ruhrgebiets aus unterschiedlichen Gründen zu einer enormen Wohnungsmisere. Zwei in der Stiepeler Gemeindevertretung am häufigsten auf der Tagesordnung stehenden Themen in der Zeit nach 1918 waren die „Bekämpfung der Wohnungsnot“ und das „Siedlungswesen“. Im November 1919 wird beispielsweise festgehalten: „Der in der Gemeinde herrschende erschreckende Mangel an Kleinwohnungen zwingt uns zu durchgreifenden Maßnahmen.“ Eine dieser Maßnahmen war der Erwerb und die Wieder-Inbetriebnahme der Munkenbeck’schen Ziegelei auf dem Gelände der heutigen Grundschule. Mit den produzierten Steinen sollten in den Folgejahren drei gemeindeeigene Siedlungen errichtet werden. Die Siedlung „Auf der Egge“ wurde nach „Am Vormbrock“ und „Finkenstraße“ (heute: Kosterstraße) als dritte geplant. Im März 1922 wird in der Gemeindevertretung angeregt „… ob nicht das Gelände früherer Spielplatz bei Schreier sich zur Bebauung eigne.“ Im Juli 1923 wird dann beschlossen, „den Gemeinde-Spielplatz … mit 8 Doppelhäusern zu bebauen.“ Im Dezember 1924 war es dann so weit, die Häuser wurden bezogen. In den 16 Doppelhaushälften wohnten seinerzeit 136 Menschen, also im Schnitt 8,5 Personen je Haus. Aufgrund der Wohnungsnot wurden je Haus zwei statt wie ursprünglich angedacht nur eine Familie untergebracht. Die Straße wurde ebenfalls fertiggestellt und von Beginn an mit Wasser- und Stromleitungen ausgestattet. Geheizt wurde damals mit Kohle, was sonst?
Auf dem historischen Foto (Blick vom Henkenberg in Richtung Süden) ist links die Rückansicht der heutigen Gräfin-Imma-Straße 48 zu sehen, rechts daneben das ursprüngliche Fachwerkhaus der Familie Schreier, im Hintergrund die Siedlung „Auf der Egge“.
Die Häuser bestanden aus 2 Stockwerken, waren aus massiven Ziegelsteinen gemauert, die Dächer waren mit Ziegeln eingedeckt. Die Häuser bestanden aus:
Kellergeschoss: 1 Waschküche und 2 Kellerräume
Erdgeschoss: 1 Wohnküche und 2 Zimmer
Dachgeschoss: 1 Zimmer, 1 Kammer, 1 Bodenraum
Anbau: 1 Stall, 1 Abort (Plumpsklo, WC erst ab 1958)
Hofraum/Hausgarten (zur Eigenversorgung)
Die Miete für ein halbes Doppelhaus betrug zunächst 30 Reichsmark im Monat, 1927 wurde sie auf 35 Reichsmark erhöht. Wer im Erdgeschoss wohnte, hatte den Hausgarten zur Verfügung, die Familie im Dachgeschoss bekam ein Stück vom Schrebergarten, der sich hinter den letzten beiden Häusern (Hausnummern 15 und 16) befand. Dort am Ende der Siedlung wurden 1960 und Anfang der 1970iger Jahre zwei weitere Häuser gebaut (Hausnummern 18 und 20), der Schrebergarten musste dieser neuen Wohnbebauung weichen.
Innerhalb der Gemeinde wuchs der Gedanke, zur weiteren Bekämpfung der Wohnungsnot eine Baugenossenschaft zu gründen. Im April 1925 fasste die Gemeinde Stiepel den Beschluss, der bereits kurz vorher gegründeten Baugenossenschaft „Heimat“ beizutreten. Die drei bis dahin gemeindeeigenen Siedlungen wurden gegen Übernahme der Hypothekenschulden im Jahr 1927 in die Baugenossenschaft eingebracht.
Die Siedlungsgemeinschaft hat ihre 100-Jahr-Feier übrigens schon durchgeführt. Um das sommerliche Wetter zu nutzen, wurde sie auf den September 2024 vorgezogen.
(Text mit freundlicher Unterstützung: Martina Faltinat)
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