Die seinerzeit aus deutscher Sicht als „Ruhrkampf“ bezeichnete Besetzung des Ruhrgebiets durch französische Truppen in den Jahren 1923 – 25, in der die Franzosen Reparationsleistungen aus dem Versailler Vertrag durchsetzen wollten, scheint fast vergessen. Das Bochumer Stadtarchiv zeigte Anfang 2013 eine Dokumentation über Kampf, Beschlagnahmen, Verhaftungen, passiven Widerstand usw. in einer typischen Industriestadt wie Bochum. Auch für Hattingen als Industriestandort und -ab Januar 1923- Sitz einer französischen Division, gibt es zahlreiche Dokumente, die das Leben in der Besatzungszeit beschreiben. Doch wie sah es in einer kleinen, damals noch selbständigen Gemeinde zwischen diesen Städten aus?
Ab dem 11. Januar 1923 begann die Besetzung des gesamten Ruhrgebiets, in Stiepel erfolgte der Einmarsch am 15. Januar. In der „Hattinger Zeitung“, die auch für Stiepel berichtete, ist zu lesen: „Unsere Gemeinde ist zurzeit sehr stark mit Besatzungstruppen belegt. Ein Bataillon Infanterie, eine Maschinengewehrabteilung, eine Abteilung Artillerie und eine Kompanie Pioniere sind in hiesigen Sälen untergebracht, auch wurden durch Unteroffiziere und Offiziere viele Wohnräume mit Beschlag belegt.“ Zu den Truppen gehörten auch rund 300 Pferde. Eine andere Quelle berichtete: „Stiepel hatte ebenfalls starke Einquartierungen zu ertragen, so daß man glauben konnte, Stiepel wäre ein Fort einer großen Festung.“ Etliche Lokale, private Wohnungen und Kellerräume wurden für die Unterbringung von Truppen in Beschlag genommen. An besonderen Vorkommnissen in den ersten Wochen der Besatzung sind drei Dinge dokumentiert:
1) Auf der Zeche „Karl Friedrich“ verweigerte Betriebsführer Berghüser die Abgabe von Briketts, worauf er verhaftet wurde. Die Franzosen luden sich dann 14 Tonnen Briketts auf,
2) Postmeister Wiegand wurde wegen des Vorwurfs verhaftet, er habe französische Maueranschläge entfernt. Dafür verbrachte er rund zehn Tage im französischen Divisionsgerichtsgefängnis in Hattingen,
3) die Herren Polizeiinspektor Günther und Polizeibetriebsassistent Jung wurden aus nicht bekannten Gründen verhaftet.
Insgesamt verlief die Besetzung, verglichen mit den Industriestädten des Ruhrgebiets, wohl eher harmlos ab. Die Stiepeler Gemeindevertretung konnte berichten, „daß sich die ersten Truppen in Stiepel anständig betragen hätten.“ Einigen Teilen der Stiepeler Bevölkerung -die man aus heutiger Sicht eher national orientiert bezeichnen könnte- war der Umgang mit den französischen Truppen sowohl durch die politischen Gemeindevertreter als auch durch etliche Stiepeler selber viel zu sanft und zu kooperativ. Dazu muss man sich vor Augen führen, dass in den umliegenden Städten Kämpfe und passiver Widerstand gegen die Besatzungstruppen zur Tagesordnung zählten, in Stiepel offensichtlich weniger. In drei in der Hattinger Zeitung veröffentlichten Leserbriefen ist unter anderem zu lesen: „Selbst die Bäcker gehen zum Teil in ihrer Profitgier soweit, fast nur noch Weißbrot und bessere Backwaren herzustellen, die von den Besatzungstruppen reißend abgenommen werden. Auch Landwirte gedenken in dieser Zeit Geschäftchen machen zu können, indem sie Eier, Speck und Geflügel an die Besatzung verkaufen.“ „Mit Verachtung sieht und hört man, daß hier in Stiepel so viele Frauen die Wäsche- und Kleidungsstücke für die Franzosen waschen.“
Der Großteil der französischen Truppen verließ Stiepel bereits Ende März 1923, restliche Einheiten am 15. Juni 1923. Die Hattinger Zeitung schrieb dazu am 9. April 1923: „Das Königreich Stiepel ist von der französischen Infanterie geräumt. Desgleichen ist der Abmarsch der übrigen Truppen am Karfreitag erfolgt. Damit wird den Ausflüglern und Spaziergängern Gelegenheit geboten, wieder die Stiepeler Alpenluft in früherer Weise zu genießen. Die Lokale sind wieder frei.“
Was allerdings auch nach diesem Datum blieb, war die Ausweispflicht, verbunden mit nächtlichen Ausgangssperren, sowie die Sperrung der Kosterbrücke und die Beschlagnahme der Fähren, sowohl bei Diergardt als auch an Haus Kemnade. Da hier in Stiepel die Ruhr die Grenze des besetzten Gebietes und darüber hinaus eine Zollgrenze für den Güterverkehr in das und aus dem besetzten Ruhrgebiet darstellte, war der freie Verkehr stark eingeschränkt. Die Besetzung des Ruhrgebiets endete im Juli/August 1925.
Auszüge aus der “Hattinger Zeitung” mit freundlicher Unterstützung des Stadtarchivs Hattingen
Eine kleine Chronik der Ereignisse
Datum | Ereignis | Quelle |
15. Januar 1923 |
Am Montag, dem 15. Jan., nachmittags gegen ½ 3 Uhr rückten die ersten Franzosen auch in Stiepel ein. Unter den Ruhrgemeinden hat außer Herbede und Baak wohl Stiepel am meisten unter der Last der Franzosen zu leiden gehabt. Im Dorf liegen z.Z. Pioniere und Infanterie. Auf der Haar im Gemeindehaus und in der Wohnung des Pfarrers Joachim, ist eine Maschinengewehr-Kompanie untergebracht worden. Beim Wirt Gustav Hoffstiepel an der Kosterbrücke liegt seit einigen Tagen Infanterie. Beim Wirt Frische ist Artillerie einquartiert worden. Im Ganzen sind zur Zeit in Stiepel an Besatzungstruppen untergebracht: Ein Bataillon Infanterie, eine Maschinengewehrabteilung, eine Abteilung Artillerie und eine Kompanie Pioniere. Viele hiesige Säle wurden für die Mannschaften und viele Wohnräume für Offiziere und Unteroffiziere mit Beschlag belegt. |
1) |
15. Januar 1923 |
Die Gemeinden Stiepel und Herbede hatten aufgrund ihrer strategischen Lage gleich vom 15. Januar an größte Einquartierungslasten zu tragen. | 2) |
22. Januar 1923 |
Der Einbruch der französischen Truppen in das Ruhrgebiet hat auf unsere Gemeinde eine drückende Besetzung gebracht und die Gemeindevertretung fühlt das Bedürfnis, sich über alle Sorgen, die mit dieser Besatzung zusammenhängen, auszusprechen. Der Amtmann erläutert die von der Verwaltung getroffenen Maßnahmen, die sich im Einklang mit den von den deutschen Staatsbehörden gegebenen Richtlinien befinden. Wünsche, die die Gemeindevertretung vorbringt, die im Interesse der Bevölkerung liegen, sollen möglichst berücksichtigt werden. | 3) |
28. Januar 1923 |
Unsere Gemeinde ist zurzeit sehr stark mit Besatzungstruppen belegt. Ein Bataillon Infanterie, einen Maschinengewehrabteilung, eine Abteilung Artillerie und eine Kompanie Pioniere sind in hiesigen Sälen untergebracht, auch wurden durch Unteroffiziere und Offiziere viele Wohnräume mit Beschlag belegt. | 4) |
29. Januar 1923 |
Da das in der Gemeinde vorhandene wenige Stroh von den Landwirten zu Futterzwecken verwendet werden muß, soll für die Besatzung ein Waggon Stroh angekauft werden. | 4) |
18. Februar 1923 |
Auf der Zeche „Karl Friedrich“ in Stiepel (Deutsch-Lux) erschien Freitag früh ein französisches Kommando und verlangte die Abgabe von Briketts. Betriebsführer Berghüser verweigerte sie, worauf er verhaftet wurde. Die Franzosen luden sich dann 14 Tonnen Briketts auf. Die Belegschaft drohte, in einen Streik einzutreten. Nach dem Verhör des Betriebsführers in Weitmar wurde er wieder freigelassen. Bis auf weiteres sind damit Schritte der Belegschaft erledigt. |
4) |
22. Februar 1923 |
Vorgestern abend wurde Herr Postmeister Wiegand von den Franzosen verhaftet. Ihm wird die Entfernung von französischen Maueranschlägen zur Last gelegt, jedoch handelt es sich nach Darstellung des Herrn Wiegand lediglich um Flugblattfetzen, die er entfernt hat. Die erste Nacht mußte Herr Wiegand in einem Keller bei Frische zubringen. Speisen von den Franzosen anzunehmen, lehnte er ab, worauf der Sohn die Erlaubnis erhielt, dem Vater Essen zu bringen. Gestern morgen wurde Herr Wiegand von den Franzosen nach Weitmar und von dort später nach Hattingen gebracht, wo er sich nun im französischen Divisionsgerichtsgefängnis im neuen Rathause befindet. | 4) |
01. März 1923 |
Herr Postmeister Wiegand von hier wurde gestern nachmittag ganz unerwartet wieder auf freien Fuß gesetzt. Er ist seit dem 19. Februar ds. Jrs. in Hattingen in Haft gewesen. | 4) |
01. März 1923 |
Den Mitgliedern der Freiwilligen Feuerwehr zur Kenntnis, daß die Besatzung unser Spritzenhaus mit Beschlag belegt und unsere Geräte auf den Schulhof gestellt hat. Infolgedessen sieht sich die Wehr, will sie ihrer guten Sache weiter dienen, gezwungen, bei einem etwaigen Brande auf dem Hofe des Landwirts Heinrich Strunk, Haarstr., anzutreten woselbst unsere Geräte bei Herrn Paul Monstadt notdürftig untergebracht sind. | 4) |
09. April 1923 |
Das „Königreich“ Stiepel ist von der französischen Infanterie geräumt. Desgleichen ist der Abmarsch der übrigen Truppen am Karfreitag erfolgt. Damit wird den Ausflüglern und Spaziergängern Gelegenheit geboten, wieder die Stiepeler Alpenluft in früherer Weise zu genießen. Die Lokale sind wieder frei. | 4) |
11. April 1923 |
Antrag der Stadt Hattingen auf Beteiligung an den Kosten für die Verpflegung der von den Besatzungstruppen Inhaftierten … Vor Eintritt in die Tagesordnung teilt der Vorsitzende [Anm.: Amtmann Thiel] mit, was freilich schon allgemein bekannt, daß die Franzosen am 29. März Herrn Polizeiinspektor Günther und in der Nacht vom 1. zum 2. April ds. Js. Herrn Polizeibetriebsassistent Jung verhaftet haben. Welche Gründe zur Verhaftung des Polizeiinspektors geführt haben, hat bis heute nicht ermittelt werden können. |
3) |
30. April 1923 |
Der Verkehr über die Ruhr ist sowohl an der Kost (Kosterbrücke), als auch an den Ruhrfähren gesperrt, letzterer durch Beschlagnahme der Kähne von französischer Seite. Wer in unserem engeren Bezirk die Ruhr passieren muß, und die Zahl der täglichen Passanten ist groß, ist auf die Ruhrbrücke in Winz angewiesen. (Die Sperre dauert bis zum 6. Mai). | 4) |
14. Mai 1923 |
Ab 14. Mai verlangten die Kontrollposten an der Ruhrbrücke von Personen, die in das besetzte Gebiet nördlich der Ruhr –also in das Gebiet innerhalb der offiziellen Zollgrenze- reisen wollten, Erlaubnisscheine der örtlichen Besatzungsbehörden. Mit Wirkung vom 19. Mai benötigte jeder Reisende, der das besetzte Gebiet nördlich der Ruhr verlassen wollte, einen französischen Sichtvermerk in Form eines Stempels. … Bereits ab 6. März gab es neue Bestimmungen für die Einreise in das besetzte Gebiet. Danach genügte nicht mehr eine Ausweiskarte gleich welcher Art, sondern nur noch ein Reisepass oder ein Ausweis mit Photo des Inhabers. … Ende Mai beschlagnahmten die Franzosen ohne vorherige Bekanntgabe die Fahrräder der Personen, die die Ruhrbrücke passieren wollten. | 2) |
12. Juni 1923 |
Bei der seit dem 28. April gesperrten Kosterbrücke gab es ab 12. Juni eine Erleichterung, als die Brücke für den Personenverkehr in der Zeit von 5 Uhr bis 20 Uhr freigegeben wurde. Autos und Fahrräder mussten aber weiterhin die Hattinger oder Herbeder Ruhrbrücke passieren, wollten sie das nördliche Ruhrufer erreichen | 2) |
15. Juni 1923 |
Erleichterungen gab es für die Stiepeler Bevölkerung zum Osterfest. Die Kompanie Pioniere, die Artillerie und Maschinengewehrabteilungen verließen Karfreitag (30.3.) den Ort. Die restlichen Truppen wurden aber erst am 15. Juni aus Stiepel abgezogen. | 2) |
Juli/ August 1925 |
Ende der Besetzung |
Quellen:
- Schulchronik der Schule Stiepel-Dorf
- Harri Petras: Der Ruhrkampf im Spiegel der Ereignisse im Hattinger Raum, Hattinger Heimatkundliche Schriften, Band 2
- Protokolle der Stiepeler Gemeindevertretung
- Hattinger Zeitung, Rubrik “Aus der Heimat”
Martin Kuhn says
Gerne würden wir Sie zu diesem Thema auch nach uns ins Hammertal zum Buchholzer Heimatverein einladen.