Über nicht vorhandene Ärzte innerhalb der Gemeinde Stiepel haben wir schon berichtet. Nachzulesen ist dieses Kapitel Stiepeler Geschichte in der Darstellung von Dr. Gerhard Gilbert, der sich am 1. Dezember 1919 als erster Arzt in Stiepel niedergelassen hat. In der Zeit davor mussten sich die Stiepeler zur ärztlichen Versorgung in die Nachbargemeinden Weitmar, Wiemelhausen und auf die gegenüberliegende Ruhrseite nach Blankenstein begeben. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, wie denn die Stiepeler nach einem Arztbesuch mit Arzneimitteln und Medikamenten versorgt wurden. In Stiepel gab es keine Apotheke, also musste man sich ebenfalls in den Nachbargemeinden aushelfen. Und genau in diesem Kontext hat der Geschichtskreis Weitmar im Juli 2020 unter dem Titel „Merkwürdiger Arzneimittelhandel in Weitmar“ über einen kleinen „Arzneimittelskandal“ recherchiert, bei dem es auch um zwei Stiepeler Gastwirtschaften und deren Rolle als Verteilzentren geht.
Auslöser von polizeilichen Untersuchungen im November 1907 war wohl, dass der eine Apotheker dem anderen seine geschäftlichen Aktivitäten neidete und sich gegen die Übergabe von Rezepten direkt aus einer Arztpraxis heraus an eine „Botenfrau“ zu wehren versuchte. Im Zuge der Untersuchungen kam heraus, dass die Witwe Wilhelmine Berentroth sich mit Duldung des Arztes Meffert in dessen Praxis aufhielt, ausgestellte Rezepte direkt einsammelte, diese zum Apotheker Brinkmann brachte und später die hergestellten Arzneien als Botenfrau an die Wirtschaft Westermann in Stiepel lieferte. Der Wirt Westermann (heutiges Haus Kemnader Straße 200 / Ecke Kosterstraße, Gründung der Wirtschaft 1895) gab die etikettierten Medikamente dann an die Stiepeler Kundschaft aus.
Gastwirtschaften waren zu jener Zeit mehr als nur eine Wirtschaft, sie hatten unterschiedliche Funktionen für das soziale Miteinander in der Gemeinde. Zum Beispiel für das Vereinsleben, als Lohn-, Steuer- oder Rentenzahlstelle, Versicherungsbüro, Poststelle usw. Nun also auch noch als Ausgabestelle für Arzneimittel. Der Amtmann von Weitmar teilte nach Abschluss der Untersuchungen der Polizei-Verwaltung in Blankenstein Ende November 1907 mit, dass die Lieferung von Medikamenten aus einer Weitmarer Apotheke an die Wirtschaft von Westermann in Stiepel aus seiner Sicht einen Verstoß gegen Gesetz und Kaiserliche Verordnung darstellt. Wie die Geschichte in Stiepel ausging, wissen wir nicht, in Weitmar erhielt der Wirt Flake die Verfügung, Annahme und Ausgabe von Medikamenten unter Strafandrohung zu unterlassen. Wir erfahren durch die polizeilichen Ermittlungen aber auch noch, dass es ein identisches System aus der Gemeinde Blankenstein heraus mit dem Wirt Frische in Stiepel gab, und das bereits seit Bestehen der Blankensteiner Apotheke im Jahr 1872. Das Haus Frische war ein seit 1857 bestehendes, über die Stiepeler Grenzen hinaus bekanntes Ausflugslokal an der heutigen Haarholzer Straße.
Der apothekenlose Zustand sollte bis zum Jahr 1954 bestehen bleiben. In jenem Jahr hat die Stadt Bochum einen Apotheken-Standort in Stiepel ausgeschrieben, den Zuschlag erhielt der Großvater des heutigen Apothekers Heiko Meyer (Ruhrland-Apotheke).